Notizbuch – VON ANGESICHT ZU ANGESICHT: Der Mann, der immer Erster war

6 06 2022

Rainer Westermann, heute 84, hat bei zahlreichen Reiseveranstaltern neue Ziele in die Kataloge gebracht

Montag, 6. Juni 2022

Was fallen mir alles für Begriffe ein, wenn ich an Rainer Westermann denke. Weggefährte – wir kennen uns jetzt 40 Jahre, und unsere Wege haben sich oft gekreuzt. Urgestein – der Mann ist 84 Jahre alt und arbeitet seit über 60 Jahren im Tourismus. Bauchtouristiker – Rainer Westermann war als Geschäftsführer verschiedener Reiseveranstalter immer sehr risikobereit und lag meistens richtig. Ja, und noch ein Begriff hat sich beim Gespräch mit ihm in mir festgesetzt: Der Mann, der immer Erster war.

In jungen Jahren war Rainer Westermann ein schöner Mann. Alte Bilder zeigen ihn mit lockigem Haar und gewinnendem Lächeln. Auf einem Foto ist er als junger Mann [der ganz links im Bild am Telefon] während seiner Ausbildung als Flugsicherungslotse zu sehen, die er von 1958 bis 1960 genoss. Zu dieser Zeit lernte er zufällig eine Berufsberaterin kennen, die ihm die Ausbildung zum Reisebürokaufmann empfahl. Die absolvierte er von 1960 bis 1962 im IATA-Reisebüro Bellevue in Berlin. Dort stieg er schnell zum Leiter der Flugabteilung auf, betreute Firmenkunden und arrangierte Gruppen- und Pauschalreisen.

Wer an Tourismus nicht so besonders interessiert ist, kann getrost den kommenden Abschnitt überschlagen. 1964 begann die tour d’horizon durch die Westdeutsche und vor allem Westberliner Tourismus-Landschaft. Ein paar von vielen Stationen: Von 1964 bis 1976 war Rainer Westermann bei Germania- Reisen unter Vertrag, zuerst als Assistent der Geschäftsführung und dann sieben Jahre als Geschäftsführer. Zweimal, von 1976 bis 1980 und von 1996 bis 1997 steuerte der agile Tourismusfachmann die Geschicke von Unger Flugreisen. Dazwischen war er Geschäftsführer des Berliner Flugrings [BFR, 1980 bis 1982] und Geschäftsführender Gesellschaft bei Delta-Reisen [1982 bis 1993]. Aus Delta-Reisen, dem Spezialveranstalter für die Türkei, wurde WIN-Tours, aber das Programm blieb gleich.

Als Unger-Geschäftsführer auf der ITB – mit dem damaligen Messechef und „Vater der ITB“ Dr. Manfred Busche

1994 und 1995 war der Bauchtouristiker Marketing- und Vertriebsleiter von Olympia-Reisen in Bonn und Berlin. Nach der zweiten Unger-Etappe arbeitete Rainer Westermann 1998 bei Phoenix Reisen in Bonn als Koordinator der Katalogherstellung, und 1999 gründete er die Firma Westermann-Seniorenreisen. Nach der Wende arrangierte er für die Firma WIN-Tours Charterflüge von Schönefeld nach Mallorca. Heute arbeitet er für verschiedene kleine Reiseveranstalter. „Noch nie in meinem Leben habe ich mich um eine Stelle beworben“, sagt er nicht ohne Stolz.

Für den Türkei Tourismus hat Rainer Westermann regelrechte Pionierarbeit geleistet: Er führte mit Delta-Reisen ab 1982 als Erster für Touristen Charterflüge ab Berlin nach Izmir und Antalya durch. „Als ich erzählte, ich mache die Türkei, haben meine Freunde gedacht, ich hätte einen Vogel“, lacht er. Das war, wie er sagt, „sehr risikoreich“. Charterflüge für Gastarbeiter gab es da schon, Urlauber aber wurden bis dahin mit Linienflügen über Istanbul in die Türkei gebracht.

Auch in anderen Destinationen hatte Rainer Westermann die Nase immer vorn. Eine kleine Auswahl: Bei Germania bot er als erster Charterflüge nach Bornholm an, und auch mit einem Irland-Charter war er der Erste. „Der Hit bei Germania waren natürlich die dreimal in Woche stattfindenden Charter nach Westerland/Sylt,“ erinnert er sich, „damit wurde Germania richtig bekannt.“ Bei Unger Flugreisen bot er als Erster mit British Airways Flügel nach Jersey an – und avancierte Mitte der 1970-er Jahre zum Israel-Pionier: Zum ersten Mal konnten Charterflüge ab Berlin nach Tel Aviv gebucht werden.

Hat sich nie beworben. Rainer Westermann an seinem heimischen Schreibtisch. – Unten: Interview bei Kaffee und Plätzchen

Was für ein pralles Berufsleben! Und woran denkt solch ein Mann, wenn er an Urlaub denkt? „Ans Meer“, sagt er. Auch das schnucklige Haus, in dem seine Frau und er – beide haben eine Tochter, die 1967 zur Welt kam – seit genau 50 Jahren wohnen, erinnert mich an ein Ferienhaus in Meeresnähe in nördlichen Gefilden. Und dann im Inneren die große Überraschung: Bilder, Bilder, Bilder. Sie stammen von Rainer Westermanns Mutter, der Malerin und Schriftstellerin Hilde Westermann [1901 bis 1958].

Der Sohn hat die Lockdown-Phase dazu genutzt, mehrere vorzügliche Hefte über die Künstlerin zu gestalten – „Bilder“, „Holzschnitte“, „Mystische Gesänge“ [Gedichte], „Spielmannslieder“ [Gedichte] oder „Vater unser“ [Zeichnungen]. Auch seinem Vater, dem Komponisten und Lichtkünstler Helmut Westermann [1895 bis 1967], ist ein Heft gewidmet: „Musik & Vidamik“. Vidamik, so heißt es an einer Stelle, „ist eine Kunst rhythmischer Bewegungsgestaltung abstrakter optischer Gebilde, deren Intensität der Farbe, der rhythmischen Spannungen, der Formen und Linien zeichnerischer Bewegungsgestaltung künstlerische Seelenwirkungen auszulösen vermag…“ Uff! Ein eigenes Thema also. Ich komme darauf zurück.